pre-Christmas

Die in dichtem Nebel P1010232_2eingehüllte Bay Bridge erscheint am heutigen Morgen grau und kalt. Langsam drängt sich der dichte Verkehr in Richtung San Francisco. Auch mit fünf Fahrspuren kommen wir des Öfteren zum Stehen, kleine Drängler machen es nicht grade einfacher. Wie schön war die Brücke nachts hell erleuchtet, der Himmel klar, die Sicht auf die Skyline der Stadt unbeschreiblich. Von einer kleinen Insel aus – Treasure Island genannt und ehemaliger Navy Stützpunkt – hatte ich einen wunderbaren Blick auf San Francisco und die Bay Area. Kreuzfahrtschiffe legten ab, kleine helle Flugzeuge flogen über uns hinweg, die Bay Bridge unter uns glänzte. Ein kleiner Genuss unterm Nachthimmel nach einem langen Arbeitstag.P1010218_2

P1010243_2Inzwischen ist meine Zeit hier überschaubar. Und dennoch gibt es vieles, was ich noch sehen und erleben möchte. So fuhren wir Samstag zu den berühmten kalifornischen Redwoods, den wohl größten Bäumen der Umgebung. Einmal richtig durchatmen, der Genuss der Natur, den Duft von Erde und Tannen, Laub und Pilzen. Wir liefen eine Weile einen kleinen Waldweg entlang. Gespannt schaute ich mich um. Ich wollte sie nicht verpassen. Die großen Redwoods. Stolz wollten mir meine Begleiter diese Bäume präsentieren. Nach einer guten halben Stunde wurde ich ungeduldig. Ist der Weg noch weit bis zu unserem Ziel? Mit verwunderten Blicken sahen sie mich an. Sie wussten nicht ganz, was ich meinte, worauf ich hinauswollte. Jetzt endlich verstand ich alles. Wir waren bereits mittendrin. Der ganze Park bestand aus den berühmten kalifornischen Küsten-Mammutbäumen. Ein bisschen enttäuscht war ich schon. Der Wald glich einem typisch deutschen Mischwald. Zum Genießen und Entspannen einfach schön, jedoch für mich nichts Besonderes. Eigenartig für mich hingegen ist ein Garten in unserer Nachbarschaft mit einem Laubbaum, einer Tanne und einer riesigen Palme. Nadelbaum und Palme? Für mich eine seltsame Kombination.P1010247_2

Thanksgiving liegt hinter mir – das amerikanische Fest schlecht hin. In vielen Familien wird es hier größer gefeiert als Weihnachten. Ich hatte das Glück, dieses Event in einer richtigen amerikanischen Großfamilie feiern zu können mit einem großen Truthahn, vielen Extras, Kuchen, Marmelade und für mich bis heute undefinierbaren Köstlichkeiten.

Die ältere Generation an dem einen Tisch schwelgte in Erinnerungen, die Anderen lachten und diskutierten auf dem Sofa. Die Jüngsten verfolgten gespannt das Football Spiel im Fernsehen auf dem Fußboden im Wohnzimmer. Der flauschige Hund Railay wusste nicht, wo er zuerst hinschauen sollte. Zu viele Menschen, zu viele Gerüche und zu viel Essen. Schnell leerten sich Sekt und Bierflaschen, in die kleinen Schokoladenkugeln wurde genüsslich hineingebissen. Ich staunte nicht schlecht, als ich die riesige Schale mit „Lindt“-Pralinen vorfand. Solche Köstlichkeiten kosten hier in der Umgebung schon ein kleines Vermögen. Aber die Amerikaner lieben deutsche und schweizerische Schokolade über alles. Nur die Kombination mit Peanut-Butter war mir neu – und nicht unbedingt mein Favorit.

Zwei Wochen zuvor wurde der Mittwoch zu meinem kleinen persönlichen Highlight. Mit 6 Kilogramm Mehl, 1 Kilo Butter, 2 Liter Milch, fast 2 Kilogramm Rosinen und weiteren Zutaten widmete ich mich meinem Projekt „Stollen backen für AgeSong“. Mit dem von mir heißgeliebten Stollenrezept meiner Oma und Uroma wollte ich ein Stück deutsche Weihnacht nach San Francisco bringen. Vom Umrechnen der Zutaten in die US-amerikanischen Einheiten, dem Besorgen aller Zutaten bis hin zu meiner kleinen Weihnachtsbäckerei brauchte es seine Zeit und ein bis zwei kleine Helfer mit guten Beziehungen zu den verschiedensten Läden der Stadt. Am Mittwoch hatten wir alles beisammen. Alles? Nicht ganz, es fehlte die Hefe. Feuchthefe, doch so etwas gibt es hier kaum. Wie sollte ich also Trockenhefe in Feuchthefe umrechnen und die benötigte Menge bestimmen? Wie gut, dass es Laptops und Skype gibt. Mit einem Mal wurde meine ganze Familie aktiviert. Wer konnte mir weiter helfen? Wer wusste Bescheid? Wer hatte die Antwort parat? Zehn Minuten später der erlösende Anruf. Wer könnte es besser wissen als Omas? Mein Projekt war gerettet. Es konnte weitergehen.

Als auch die unerwartet großeP1010193_2 Menge an Trockenhefe vorhanden war, mahlte ich Mandeln, wog die Zutaten ab, erwärmte die Butter und fügte schließlich alles in einer großen Box zusammen. 6 Kilogramm Mehl zu kneten und alle Zutaten gleichmäßig zu vermischen, war nicht leicht. Allein dafür brauchte ich beinah 45 Minuten. Erst musste die Hefe gehen, dann auch der Teig. Immer wieder 45 Minuten warten, hoffen, dass die Hefe aufgeht, der Teig wächst. Wie erleichtert war ich, als ich drei große Bleche voller Stollen nach sechs Stunden Arbeit aus dem Ofen holen konnte. Sie sind nicht verbrannt, nicht zu hart und nicht zu weich. Als ich sie in Folie einwickelte und behutsam im Regal verstaute, musste ich lächeln. Ein bisschen stolz war ich schon auf mich. 6 Stunden Stollen backen, allein und ohne Hilfe. Ob sie wirklich schmecken werden? Wir werden sehen, wenn sie am 11.12. aus dem Regal geholt werden und wir sie zu unserem „Deutschen Weihnachtsfest“ bei AgeSong anschneiden. Ich bin schon jetzt gespannt.

Mein Weg führt mich durch die Straßen unserer kleinen Stadt. Langsam ersetzten bunte Lichter, Schneemänner und Zuckerstangen die Thanksgiving-Dekorationen. Erste Weihnachtsmänner leuchten auf den Dächern und kleine Rentiere verstecken sich zwischen Büschen und Bäumen. Es wird weihnachtlich in Alameda. Schon bald werden Häuser und Straßen hell erleuchtet sein. Ein kleines Highlight gibt es auch hier: eine einzige Straße, die besonders bunt, besonders kreativ und besonders hell erleuchtet und dekoriert sein wird. Die Bewohner der Straße haben in ihren Verträgen unterzeichnet und versprochen, die Straße ein weihnachtliches Highlight für Bewohner und Touristen werden zu lassen. Es soll ein überwältigendes Erlebnis sein.

Ein Vogelzwitschern weckt mich aus meinen vorweihnachtlichen Träumen. Es ist die Ampel. Hier in Alameda haben alle ‚Avenues‘ ein Vogelzwitschern und alle ‚Streets‘ einen Kuckuck-Ruf als zusätzliches Signal zum grünen Licht und dem Countdown, der anzeigt, wann die Ampel umschalten wird. So etwas gibt es nicht in San Francisco, der großen Stadt. Nein, solche Kleinigkeiten erlebt man nur in Orten, wie Alameda – einer Kleinstadt wie man sie aus Film und Fernsehen kennt.

new countdown

Langsam verdrängen Regenwolken und Nebel die letzten Sonnenstrahlen. Es wird kalt und nass in San Francisco. Ich genieße den ersten Regen, die ersten feuchten Füße auf dem nach-Hause-Weg, den Geruch von Laub und Feuchtigkeit. Durch die warmen, sommerlichen Tage bis in den November hinein hatte sich mein Zeitgefühl verschoben. Noch immer schien es, September zu sein, Spätsommer. Die Zeit schien einfach nicht voran zu schreiten. Dass in einem Monat Weihnachten vor der Tür stehen sollte, war bis vor wenigen Tagen noch unvorstellbar. Endlich kommen kleine Lichterketten und Dekorationen in den Schaufenstern zum Ausdruck. Das rege Treiben auf den Straßen gleicht Deutschland ungemein. Eingepackt in Jacken und Mänteln mit Regenschirmen in den Händen laufen die Menschen auf dem Bürgersteig, ohne nach links oder rechts zu schauen. Ganz wie zu Hause.

Die eigenen vier Wände

Ich schaue mich um. Unser kleines Appartement in Alameda – einer Kleinstadt außerhalb San Franciscos – ist warm, wenn auch spärlich eingerichtet. Gemeinsam mit meiner 18-jährigen Mitfreiwilligen bewohne ich hier ein kleines Zimmerchen mit zwei Betten Schränken und Nachtschränkchen. Es ist niedlich. Die breite Fensterwand lockert und hellt den Raum etwas auf. Jeglicher nächtlicher Lärm und der Kampf und etwas Privatsphäre scheinen vergessen zu sein. Kochen und das Aufbewahren von Nahrungsmitteln sind kein Problem mehr. Die Küche ist groß und geräumig. Nur die allzeit bewährte Mikrowelle fehlt.

Ein Appartement nur für uns zwei. Nachdem unsere geplante Mitbewohnerin nach fünf Minuten das Weite suchte, da ihr die Unterkunft zu abscheulich und ekelhaft vorkam, zog sie es vor, zurück in ein Hotel zu ziehen. Nicht einmal ihr Haushälter würde so leben müssen. Nun ja. Ihre Entscheidung, AgeSong binnen einer Woche verlassen zu wollen, fiel genau in diesem Moment.

Noch einmal Koffer packen – zum letzten Mal

Ich schaue auf meine kleine Kerze. Inzwischen hat sich ihr weihnachtlich süßer Duft im ganzen Zimmer verteilt. Vor mir eine Kiste, zur Hälfte gepackt. Eine Decke, dicke weiche Pullover, Handtücher, Bettlaken. In wenigen Tagen wird sie vollbepackt ihre lange Reise nach Deutschland antreten. Mit Sachen, die ich hier nicht mehr benötige. Die nicht in meine Koffer passen. Koffer… packen… das klingt nach reisen… Ich plane eine lange Reise. Nach Hause ohne Rückflugticket.

Fast 11 Wochen lebe ich jetzt in San Francisco. Die Arbeit bei AgeSong Senior Community ist nicht so, wie erwartet. Inzwischen zähle ich jeden Tag erneut die Stunden, schaue aller zehn Minuten auf die Uhr. Es gibt für uns hier kaum etwas zu tun. Tag für Tag sitzen wir im Keller in einer kleinen Bibliothek, arbeiten an unserer weihnachtlichen Präsentation, die bereits seit einigen Tagen fertig ist. Wir warten auf etwas Büroarbeit, die vielleicht irgendwo zu erledigen ist oder bereiten uns auf die ein oder andere Gruppe vor, die eigentlich keine Vorbereitung benötigt.

Für mich wird es von Tag zu Tag schwieriger, mit stark psychisch und physisch eingeschränkten Menschen zu arbeiten. Es ist nicht einfach zu sehen, dass es ihnen nicht mehr möglich ist, sich allein zu bewegen, selbstständig zu essen oder gar auf Fragen zu antworten. Wie schnell versterben hier Bewohner. Aktuelles Befinden wird schön geredet, vieles einfach hingenommen. Die gewünschte Nähe zu den Senioren zuzulassen, gelingt mir nicht. Oft gehe ich auf Distanz mit der Unsicherheit, den Menschen mir gegenüber zu verletzen. Ich weiß, wie sehr sich ältere und kranke Menschen freuen, wenn man einfach nur da ist, ihnen Gesellschaft leistet und Aufmerksamkeit schenkt. Ich bewundere jeden Mitarbeiter hier, der mit demenzkranken Menschen arbeiten kann und dies mit Hingabe tut. Umso erleichterter war es für mich zu hören, dass die Mitarbeiter von AgeSong auch meine Position nachvollziehen können. Nicht jeder kann tanzen, nicht jeder beherrscht die Formeln der Physik, nicht jeder spricht akzentfreies Englisch – und nicht jeder kann mit Leidenschaft in einem Seniorenheim arbeiten.

So genieße ich die letzten Wochen in San Francisco so gut es geht. Alcatraz und Cable Car stehen noch auf dem Programm. Im Golden Gate Park soll die California Academy of Sciences ein unbeschreibliches Erlebnis sein. Fünf Wochen vergehen schnell. Auch wenn ich hoffe, dass die Tage wie im Fluge vergehen, so soll dennoch genügend Zeit für Weihnachtseinkäufe bleiben. Mein Wunsch, einmal die Weihnachtszeit in Amerika zu verbringen, wird sich erfüllen. All die Kaufhäuser und Schaufenster werden nach Thanksgiving am Donnerstag hell erleuchtet, Weihnachtsmusik in jeder Straße zu hören sein. Abflug am 23.12.2012. Pünktlich zum Heiligen Abend werde ich in Deutschland bei meiner Familie sein. Eine perfekte Planung. Wenn auch durch unerwartete Umstände.