new countdown

Langsam verdrängen Regenwolken und Nebel die letzten Sonnenstrahlen. Es wird kalt und nass in San Francisco. Ich genieße den ersten Regen, die ersten feuchten Füße auf dem nach-Hause-Weg, den Geruch von Laub und Feuchtigkeit. Durch die warmen, sommerlichen Tage bis in den November hinein hatte sich mein Zeitgefühl verschoben. Noch immer schien es, September zu sein, Spätsommer. Die Zeit schien einfach nicht voran zu schreiten. Dass in einem Monat Weihnachten vor der Tür stehen sollte, war bis vor wenigen Tagen noch unvorstellbar. Endlich kommen kleine Lichterketten und Dekorationen in den Schaufenstern zum Ausdruck. Das rege Treiben auf den Straßen gleicht Deutschland ungemein. Eingepackt in Jacken und Mänteln mit Regenschirmen in den Händen laufen die Menschen auf dem Bürgersteig, ohne nach links oder rechts zu schauen. Ganz wie zu Hause.

Die eigenen vier Wände

Ich schaue mich um. Unser kleines Appartement in Alameda – einer Kleinstadt außerhalb San Franciscos – ist warm, wenn auch spärlich eingerichtet. Gemeinsam mit meiner 18-jährigen Mitfreiwilligen bewohne ich hier ein kleines Zimmerchen mit zwei Betten Schränken und Nachtschränkchen. Es ist niedlich. Die breite Fensterwand lockert und hellt den Raum etwas auf. Jeglicher nächtlicher Lärm und der Kampf und etwas Privatsphäre scheinen vergessen zu sein. Kochen und das Aufbewahren von Nahrungsmitteln sind kein Problem mehr. Die Küche ist groß und geräumig. Nur die allzeit bewährte Mikrowelle fehlt.

Ein Appartement nur für uns zwei. Nachdem unsere geplante Mitbewohnerin nach fünf Minuten das Weite suchte, da ihr die Unterkunft zu abscheulich und ekelhaft vorkam, zog sie es vor, zurück in ein Hotel zu ziehen. Nicht einmal ihr Haushälter würde so leben müssen. Nun ja. Ihre Entscheidung, AgeSong binnen einer Woche verlassen zu wollen, fiel genau in diesem Moment.

Noch einmal Koffer packen – zum letzten Mal

Ich schaue auf meine kleine Kerze. Inzwischen hat sich ihr weihnachtlich süßer Duft im ganzen Zimmer verteilt. Vor mir eine Kiste, zur Hälfte gepackt. Eine Decke, dicke weiche Pullover, Handtücher, Bettlaken. In wenigen Tagen wird sie vollbepackt ihre lange Reise nach Deutschland antreten. Mit Sachen, die ich hier nicht mehr benötige. Die nicht in meine Koffer passen. Koffer… packen… das klingt nach reisen… Ich plane eine lange Reise. Nach Hause ohne Rückflugticket.

Fast 11 Wochen lebe ich jetzt in San Francisco. Die Arbeit bei AgeSong Senior Community ist nicht so, wie erwartet. Inzwischen zähle ich jeden Tag erneut die Stunden, schaue aller zehn Minuten auf die Uhr. Es gibt für uns hier kaum etwas zu tun. Tag für Tag sitzen wir im Keller in einer kleinen Bibliothek, arbeiten an unserer weihnachtlichen Präsentation, die bereits seit einigen Tagen fertig ist. Wir warten auf etwas Büroarbeit, die vielleicht irgendwo zu erledigen ist oder bereiten uns auf die ein oder andere Gruppe vor, die eigentlich keine Vorbereitung benötigt.

Für mich wird es von Tag zu Tag schwieriger, mit stark psychisch und physisch eingeschränkten Menschen zu arbeiten. Es ist nicht einfach zu sehen, dass es ihnen nicht mehr möglich ist, sich allein zu bewegen, selbstständig zu essen oder gar auf Fragen zu antworten. Wie schnell versterben hier Bewohner. Aktuelles Befinden wird schön geredet, vieles einfach hingenommen. Die gewünschte Nähe zu den Senioren zuzulassen, gelingt mir nicht. Oft gehe ich auf Distanz mit der Unsicherheit, den Menschen mir gegenüber zu verletzen. Ich weiß, wie sehr sich ältere und kranke Menschen freuen, wenn man einfach nur da ist, ihnen Gesellschaft leistet und Aufmerksamkeit schenkt. Ich bewundere jeden Mitarbeiter hier, der mit demenzkranken Menschen arbeiten kann und dies mit Hingabe tut. Umso erleichterter war es für mich zu hören, dass die Mitarbeiter von AgeSong auch meine Position nachvollziehen können. Nicht jeder kann tanzen, nicht jeder beherrscht die Formeln der Physik, nicht jeder spricht akzentfreies Englisch – und nicht jeder kann mit Leidenschaft in einem Seniorenheim arbeiten.

So genieße ich die letzten Wochen in San Francisco so gut es geht. Alcatraz und Cable Car stehen noch auf dem Programm. Im Golden Gate Park soll die California Academy of Sciences ein unbeschreibliches Erlebnis sein. Fünf Wochen vergehen schnell. Auch wenn ich hoffe, dass die Tage wie im Fluge vergehen, so soll dennoch genügend Zeit für Weihnachtseinkäufe bleiben. Mein Wunsch, einmal die Weihnachtszeit in Amerika zu verbringen, wird sich erfüllen. All die Kaufhäuser und Schaufenster werden nach Thanksgiving am Donnerstag hell erleuchtet, Weihnachtsmusik in jeder Straße zu hören sein. Abflug am 23.12.2012. Pünktlich zum Heiligen Abend werde ich in Deutschland bei meiner Familie sein. Eine perfekte Planung. Wenn auch durch unerwartete Umstände.

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