Take it easy!

Es poltert und rumpelt, quietscht und knarrt. Reges Treiben herrscht auf den Fluren so kurz vor dem Wochenende. Meine Gruppe für autogenes Training war erfolgreich. Das Feedback zufriedenstellend, die Senioren völlig entspannt von ihrer kleinen Traumreise zurückgekehrt. Erleichtert schaue ich auf die Uhr. Noch 90 Minuten. Fast ein ganzer Monat ist nun schon vergangen. Dort leben und arbeiten, wo andere Urlaub machen. Ein Traum?

Da waren ungeregelte Arbeitsbedingungen, die ungeklärte Wohnsituation, das winzige Zimmer und zu wenig Ruhe. Nachdem wir am vergangenen Wochenende enttäuscht von Wohnungsbesichtigungen in Oakland zurückgekehrt waren, schienen Motivation und Enthusiasmus am ihrem Tiefpunkt angelangt zu sein. Die Wohnungen waren unsauber, kalt, von großen Hunden bewohnt oder zu teuer. Eines hatten sie jedoch alle gemeinsam: die unsichere und recht kriminelle Umgebung. Mit dem uns zur Verfügung gestellten finanziellen Budget war etwas anderes nicht möglich. Dass wir uns weigerten, dahin zu ziehen, lag auf der Hand.

Sommer, Sonne, Strand

Die vergangenen Tage waren heiß. Der „Indische Sommer“ zeigte sich mit aller Kraft von seiner besten Seite. Solche hohen Temperaturen bei nahezu Windstille in San Francisco erleben zu dürfen, ist äußerst selten. Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Senioren ging es diese Woche samt Vanilleeis und Soda an den Strand. Eine Spezialität des Landes, so heißt es. Nun ja, das Vanilleeis allein tut es meiner Ansicht nach auch. Kaum in der ‚Crissy Field Picnic Area‘  angekommen, stand ich auch schon mit beiden Füßen im San Pablo Bay. Das Wasser war eisig, der leichte Wind angenehm warm. Sanft brachen die kleinen Wellen an den Felsen und Kinder quietschten vergnügt im Sand. Für einen kurzen Augenblick war alles vergessen. Lächelnd träufelte ich etwas Wasser auf meine Zunge um ganz sicher zu sein, dass es salzig ist. Unter der pompösen und stolzen Golden Gate Bridge ließen sich unzählige Segelboote treiben. Alcatraz lag in P1000517_2schönstem Sonnenschein mitten im San Pablo Bay. Das war San Francisco, wie ich es mir erhofft hatte. Einfach unbeschreiblich. Kein Foto und kein Video der Welt können einen solchen Moment festhalten. So etwas muss man selbst erlebt haben.P1000540_2

In Gedanken versunken lief ich am Strand entlang. Nach einer Weile traf ich einen unserer Bewohner und er beschloss, mir auf meinem Weg zum Fischersteg Gesellschaft zu leisten. Möwen begleiteten uns, die sich von dem recht starken Gegenwind treiben ließen. Das ein oder andere hübsche Bild entstand, während der Herr an meiner Seite zitternd mit seinen unendlich langen Fingernägeln meine Kamera hielt.

Auf dem holprigen Steg angekommen, war ich ganz fasziniert von einem großen Vogel, der weder Storch noch Pelikan war. Es störte ihn ganz und gar nicht, dass Touristen Fotos von ihm machten oder eine Möwe ihm nicht mehr von der Seite wich. Ein Stück weiter sah ich ganz neidisch einer Gruppe von Anglern zu und fand in einem kleinen Small-Talk heraus, dass ich nicht einmal eine Lizenz zum Fischen auf diesem Steg brauche. Also: Wer hat eine Angel und einen Kescher für mich? Und vor allem: Wer will meine potenziellen Fische haben? Von weitem beobachtete ein Seelöwe das Geschehen und genoss den Kontrast zwischen der heißen Sonne und dem kühlen Nass. Schade, dass auch die schönste Zeit irgendwann zu Ende ist.

P1000528_2Von Pfirsichen und Kokosnüssen

Was nützt es, immer wieder neu über das zu klagen, was nicht da ist, nicht stimmt oder nicht funktioniert? Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, also Augen zu und durch. Mit etwas Geduld und Fingerspitzengefühl entstand nun der dritte Stundenplan. Mit offenen Augen und viel Verständnis saß uns Activity Director Sushi gegenüber. Sie hörte zu, unterbrach uns nicht. Eigene Ideen waren willkommen, auf Bitten seitens AgeSongs wurde über Kompromisse eingegangen. Ich freue mich auf das Plätzchenbacken zu Weihnachten, den monatlich stattfindenden Austausch zwischen amerikanischer und deutscher Kultur, einen kleinen Chor und meiner eigenen Gruppe für autogenes Training.

Das achtstündige „Organisationstraining“ für alle neuen Mitarbeiter am Donnerstag war nicht ohne. Weniger anspruchsvoll jedoch anstrengend. So viel ‚Peace, Love and Happiness‘ war einfach zu viel. Ich wusste, dass die Menschen hier viel auf Liebe und Frieden geben. Dies auch immer und zu jeder Zeit zum Ausdruck bringen wollen – es leben die Hippies von San Francisco – doch mir war das einfach zu viel des Guten. Waren somit Klischees über die deutsch Kühle und die amerikanische Offenheit bestätigt?

Die Menschen hier sind anders. Offen, freundlich, locker und herzlich. Der Eine mag es, dem Anderen ist das zu viel. Ich bevorzuge etwas mehr Abstand. Und auch unser kleiner Fahrer bei AgeSong wird lernen müssen, dass ständige Umarmungen, Fragen nach dem Gemütszustand meiner Eltern und das Abnehmen der auch noch so kleinsten Arbeit bei mir nicht unbedingt auf Gegenliebe stoßen. Aber er hat es nun besonders schwer mit mir: als Amerikaner mit südamerikanischem Blut und auf andere Männer stehend ist er jeden Tag so voller Frieden und Liebe, dass mein gestriges Ausweichen vor der fünften Umarmung des Tages ihn sehr mitgenommen hat. Ich bin gespannt, wann er sich von seinem Schrecken erholen wird und wieder mit mir reden möchte.

Zwei Straßen weiter und dann rechts

Es ist Freitag. Noch einmal umdrehen, die Zeit ignorieren. Warum musste es nachts hier immer  so furchtbar unruhig sein? Wieso mussten zwischen 12 und zwei in der Frühe Stühle lautstark verschoben werden und Telefonate und Zigarettenpausen genau vor unserem Fenster stattfinden? Das Fenster zu schließen ist schwierig. Dann wird es zu warm. Ist es geöffnet, erstickten wir im Qualm.

Leicht demotiviert saß ich gemeinsam mit meiner Mitfreiwilligen im morgendlichen Meeting. Nichts Neues, alles wie immer. Da wird über Zimmerwechsel, Hausbesichtigungen und Neuankömmlinge gesprochen. Wer braucht viel Aufmerksamkeit, wer einen Spaziergang und wie können kranke Patienten isoliert werden ohne ihnen ein Gefühl des Abschiebens zu vermitteln? 45 Minuten zogen sich sehr in die Länge. Bereits zuvor hatte ich erfahren, dass ich meine erste Gruppe für autogenes Training schon am frühen Nachmittag durchführen sollte. Das hieß für mich, in kürzester Zeit Musik raus zu suchen und den Text zum Vorlesen zu übersetzen. In Gedanken versunken hörte ich nur indirekt bei Gesprächen zu und antwortete nur knapp auf mir gestellte Fragen. Ja, es ging mir wie immer gut, ich bin wie jeden Morgen müde und schön, dass ein Appartement für uns gefunden worden war. Halt. Für uns wurde ein Appartement gefunden? Ich sah in ein breites Grinsen. Wann hatte er diese Nachricht erhalten? Erst gestern? Wusste er mehr als ich und vor allem: wo hatte er diese Information her?

Es dauerte keine fünf Minuten, da wusste auch ich aus erster Hand Bescheid. Sie hatten ein Appartement gefunden, unweit entfernt für drei Personen. Die Bilder waren viel versprechend. Waschmaschine und Trockner inklusive. Am Montag schauen wir es uns an. Wir halten die Daumen gedrückt für unser neues Heim zwei Straßen weiter und dann zwei Blöcke nach rechts.