Die dritte Arbeitswoche neigt sich dem Ende entgegen. Während die letzten Sonnenstrahlen auf die Erde fallen und der Wind durch Äste und Blätter streift, blicke ich zurück auf die vergangenen Tage. Es war nicht einfach. Hier und da gab es Unklarheiten und Sehnsucht nach der Heimat. Warum wusste keiner über uns, unser Kommen und unser Projekt Bescheid? Inwiefern lag es nun an uns, Kompromissbereitschaft zu zeigen? Wie viel Zugeständnisse müssen wir noch machen, auch wenn wir uns damit nur noch schwer abfinden können?
Aufpassen, reden, unterhalten und da sein. Ich bewundere jene Menschen, die Pflege und Fürsorge älterer Menschen zu ihrem Beruf gemacht haben. Viele der psychisch oder physisch eingeschränkten Senioren hier sind unglaublich liebenswürdig und warm. Jeder ist auf seine Art besonders und einzigartig. Und trotzdem ist es hart, ihnen jeden Tag in die Augen zu schauen und erneut freundlich und offen ihre Fragen zu beantworten: „Wer bist du? Was machst du hier?“ Und manchmal auch: „Wo bin ich hier? Wann gehen wir nach Hause? Wann kommt meine Familie?“ Die wahre Antwort wäre dann wohl: nie.
Die US-Amerikaner sind grade hier in Kalifornien sehr kommunikativ und hilfsbereit. Ob man einem Menschen einmal, zweimal, fünf- oder zehnmal am Tag begegnet, ist unwichtig. Auf die Frage, wie es einem geht und wie es so läuft, sollte man immer gefasst sein. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wirklich jedes Mal eine Antwort erwartet wird. Inzwischen reicht auch ein Nicken oder Lächeln.
Die Straßen von San Francisco
Auch wenn ich sortiert und sorgfältig mit T-Shirts, Hosen, Pullover und Röcken umgegangen bin, so kam auch ich nach knapp drei Wochen nicht mehr ohne Waschmaschine aus. Ich gebe zu, dass ich den öffentlichen Waschsalons durchaus skeptisch gegenüber stand und bis zum Schluss gehofft habe, rechtzeitig in ein eigenes Appartement umziehen zu können. Bei meinen nächtlichen Small-Talks mit dem Pflegepersonal hier habe ich herausgefunden, dass auch in Amerika viele Appartements neuerdings eigene Waschmaschinen im Haus haben. Nun blieb mir jedoch der Besuch im Waschsalon nicht mehr erspart. Mit mulmigem Gefühl kaufte ich Waschmittel und Weichspüler und ging die Straße hinauf.
Ein Mann kam herunter gehetzt. Gefolgt von zwei Weiteren in blauer Jeans und schwarzer Weste. Ein weißes Auto wurde mit einer Vollbremsung zum Stillstand gebracht und versperrte weiteren Fahrzeugen den Weg. Das laute Heulen der Polizeisirenen kam immer näher. Irgendetwas stimmte hier nicht. Dann ging alles ganz schnell. Zwei weitere Männer rannten über die Kreuzung, gefolgt von Polizeiauto und Streife in Zivil. Der Polizeiwagen bremste. Sackgasse. Raus aus dem Wagen. Im Sprint hinter den Flüchtlingen hinterher. Einer von ihnen Stolperte und fiel zu Boden. Mit aller Kraft drückte ihn ein Beamter fest auf den Asphalt und legte ihm die Handschellen an. In 30 Zentimeter Luftlinie gingen wir an ihnen vorbei. Was war hier los?
Am Ende des Blocks rauchte und qualmte es. Eine Menschenmenge hatte sich am Spielplatz versammelt. Drei zusammengestoßene jedoch parkende Autos standen am Straßenrand. Ein weiteres war vollkommen zerstört. Die Beifahrerseite komplett eingedrückt stand es mitten auf dem Bürgersteig. Es war schwer zu erkennen, wie viele Personen sich im Unfallwagen befanden. Ein Feuerwehrmann setzte sich auf den Rücksitz, um den Fahrer zu beruhigen. Drei weitere versuchten den schwerverletzten Mann aus dem Wagen zu bergen. Hier stellten wir uns erstmalig die Frage, ob Feuerwehr und Rettungssanitäter wohl ein und die Selbe Aufgabe haben, denn nirgendwo war ein Rettungswagen zu sehen. Nur zwei Feuerwehrautos in Form unserer deutschen Rettungsfahrzeuge und ein großes Feuerwehrauto samt Leiter und allem drum und dran waren hier im Einsatz.
Es dauerte eine Weile bis der Fahrer aus dem Auto heraus gesägt worden war und ins Krankenhaus gebracht werden konnte. Er schien allein im dem Wagen gewesen zu sein. Wir jedoch ließen die schaulustige Menge bald hinter uns und betraten den Waschsalon. Auch hier machte sich die Hilfsbereitschaft der Amerikaner bemerkbar. Bald hatte ich den Dreh raus und kam 90 Minuten später mit trockener und duftender Wäsche zurück. Es funktioniert also tatsächlich.
Geduld heißt das Zauberwort
Es ist nicht selten, dass unsere Nächte doch recht unruhig und kurz verlaufen. Viele Senioren stöhnen im Schlaf, rufen nach Hilfe oder hauen mit den Fäusten gegen die Wand. Pfleger und Schwestern kommunizieren lautstark über den Flur hinweg und Alarme und Signale ertönen durchs Haus. Nach drei Wochen zerrten dieser Stress und diese Unruhe doch an Kraft und Nerven. Auch wenn in den kommenden Wochen viele neue Mitarbeiter und Senioren aufgrund der Umstrukturierungen innerhalb AgeSong’s kommen werden und dies hier Priorität haben wird, geben wir nicht auf für unsere Privatsphäre und Unterkunft außerhalb der Community zu kämpfen.
Ehrlich und bestimmt treten wir den Internen hier gegenüber. Wie es uns geht? Nun ja, wir arrangieren uns mit der Situation. Diese Woche haben wir die Initiative ergriffen und unsere Ansprechpartnerin auf Wohn- und Arbeitssituation angesprochen. Mit klaren Sätzen machten wir ihr klar, dass wir gerne helfen, mit den Bewohnern sprechen und bei ihnen sind. Doch nicht acht Stunden täglich. Noch einmal erklärten wir ihr Projekt- und Stellenbeschreibung, auf die wir uns beworben hatten. Noch einmal baten wir um einen Kompromiss, der unsere Vorstellungen und die Bitte der Community, die Pfleger zu unterstützen, vereint. Auch wenn es wieder locker abgetan wurde und wir mehrmals unser Anliegen wiederholen mussten, so kamen wir endlich ein kleines Stück voran. Wir entwickeln nun gemeinsam mit Activity Director Sushi unseren eigenen Stundenplan. Kunst und Kultur werden Hauptbestandteil sein, an Pflege und Fürsorge wird auch gedacht. Wir wollen nicht nur fordern müssen, wir wollen auch geben.
Ich bin froh, endlich sehen zu können, dass sich aktiv jemand der Suche eines Appartements für uns gewidmet hat. Vielleicht sind wir zu dritt, vielleicht zu zweit. Ob die wunderschöne East-Bay-Seite oder San Francisco City… Wer weiß? Das Jahr soll sowohl für AgeSong als auch für uns erfolgreich, weiterführend und Freude bereitend sein. Mit viel Geduld und Spucke fängt man eine Mücke. Und ich glaube, wir sind langsam aber sicher auf dem richtigen Weg dahin.