one hundred percent America

Noch vor einem Monat  schien das ständige Frage – Antwort – Spiel nach Befinden und Gemütszustand angenehm. Die Menschen zeigten Interesse, hießen uns willkommen. Mit der Zeit wurde es anstrengend. Die Fragen häuften sich, schienen nicht ernst gemeint und rein flüchtig zu sein. Am Ende der dritten Woche habe ich angefangen, abzublocken. Ein Nicken oder Lächeln genügte. Jetzt nach über einem Monat habe ich den Dreh raus. Der Trick besteht darin, den Anfang zu machen, die erste Frage zu stellen, von allein auf die Leute zu zugehen. So macht das kleine Frage – Antwort – Spiel  Spaß und mein Tag verläuft wesentlich lockerer und entspannter.

Inzwischen kehrt der Alltag ein. Wege und Handgriffe werden zur Routine, das Wochenprogramm wird immer mehr verinnerlicht, Termine und Gespräche werden lockerer angegangen als noch zu Beginn des IJFD‘s. So langsam sind mir die Senioren und ihre Lebensgeschichten vertrauter. Zeit, um über das Geschehen bei AgeSong hinaus zu schauen. Die U.S. Amerikaner sind bereit. Der sechste November steht kurz bevor. Tag der Präsidentschaftswahl.

Ein Mann für ganz Amerika

Es ist 16.30.  Feierabend. Von Ausruhen keine Spur. Mit Musik in den Ohren laufe ich schnellen Schrittes in Richtung Civic Center als ich auf eine Masse von Menschen stoße. Sie alle scheinen auf etwas zu warten. Überall Polizisten mit Waffen, Schusswesten, Schlagstöcken und natürlich großen schwarzen Sonnenbrillen. Parkende Busse und Journalisten an jeder Ecke. Auf der anderen Straßenseite das Bombenentschärfungskommando und die Leute vom Fernsehen. Ein Anschlag war es nicht, auch kein Attentat. Die Menschen kommen von überall her, aus jeder Nachbarschaft, ob arm, ob reich – einfach jeder. Sie alle wollen Karten, die Billigste für die letzte Reihe kostet 100 Dollar. Eine Frau hebt vor meinen AugeP1000732_2n energisch ein Schild nach oben: „Four more years!“ ruft sie mit allem, was ihre Stimme hergibt. Auf ihrem blauen T-Shirt steht in großen roten Buchstaben ‚Obama‘ geschrieben. Die Menge vor dem Symphonie-Theater wartet auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.

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Der Platz vor dem Rathaus füllt sich. Nicht nur mit Obamas Befürwortern. Menschen protestieren gegen den Krieg im Afghanistan, den Cannabisanbau oder die enorme Kontrolle im Staat.

Die Amerikaner leben diese Wahl. Sie zeigen offen, was und wen sie wollen. Nichts bleibt geheim, kein Getuschel und keine Heimlichtuereien wie auf deutschem Boden. Der Wahlkampf wird zur Party. Auf dem Rasen Artisten, die bis zu drei Meter lange Seifenblasen entstehen lassen. Fanartikel werden verkauft, darunter Poster, Buttons und T-Shirts. Laute Musik spielt im Hintergrund. Ein junger Herr mit Base-Cap und Caprihose kommt mir entgegen. In der Hand trägt er ein kleines Körbchen. Ich werfe einen Blick hinein und bin fasziniert. Er drückt mir einen kleinen Obama-Gummi-Kopf in die Hand – ein grinsendes Abbild des Präsidenten als Spardose für jedermann. „Fünf Dollar das Stück, drei für zehn.“ Der Mann sah  mich lächelnd an. Zwei weiter Frauen schauen interessiert in den Korb. Begeistert nehmen sie die Köpfe heraus und posen gerne für Fotos.  Aber trotz aller Bemühungen schaffen sie es nicht, mich vom Kauf eines solchen Erinnerungsstückes zu überzeugen.

Ich schaue mich um. Die Menge tobt. Die Atmosphäre ist unbeschreiblich. Ich komme ins Gespräch mit Obama-Anhängern. Eine Frau zieht mich auf ihre Seite des Bordsteines und versucht mich für Romney zu begeistern. Der Mann mit dem Körbchen voller Köpfen erlöst mich aus dem Redeschwall der eifrigen Wählerin. „Drei Dollar für die Lady aus Deutschland.“ Na gut, überzeugt. Jetzt besitze ich meinen ganz persönlichen grinsenden Obama auf dem Nachttisch.P1000700_2

90 Minuten später. Erste Zuschauer werden an die Theaterkasse gebeten. Glücklich winken sie mit ihren Tickets. Sie sind erleichtert, eine der Wenigen sein zu dürfen, die Obamas Rede live miterleben werden. Auf der anderen Seite stehen Anzugträger und Frauen in ihren schönsten Abendkleidern. Ehrengäste, Sponsoren oder Gefolge des Präsidenten. Auch sie müssen anstehen und warten. Barack Obama hat das Theater bereits über einen Hintereingang betreten. Doch hier weiß noch niemand etwas davon.

Die Sonne geht langsam unter. Es wird kalt. Vor meinem Heimweg bewundere ich noch einmal die riesig bunten Seifenblasen. Ich freue mich auf den sechsten November. Bis dahin werden die Menschen wohl weiter für ihren alten oder neuen Präsidenten kämpfen. Immer und überall. Und mit vollem Engagement.

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