Fünf Tage sind bereits vergangen und endlich haben sich Kreislauf und Kopf an die Zeitumstellung gewöhnt. Zwölf Uhr nachts ist nun nicht mehr Frühstückszeit und zum Mittagessen sehne ich mich nicht mehr nach Sandmännchen und Bettzipfel. Ein großer Schritt ist damit getan.
Ich gebe zu, heute Morgen nicht allzu elanvoll gewesen zu sein. Bei unserem 45 Minuten Meeting konnte ich am Ende kaum noch sitzen. Als wir erneut zum Aktenordnen verdonnert wurden, verflog auch der letzte Hauch an Schaffenslust. Das war doch nicht sein Ernst? Immerhin bekamen wir den ganzen Tag dafür Zeit. Jetzt stand erste einmal Thai Chi auf meinem Plan.
Kennen wir uns?
Thai Chi mit Senioren konnte ich mir anfangs kaum vorstellen. Nur wenige Bewohner sind nicht bewegungseingeschränkt und längeres Stehen mutet man hier niemandem mehr zu. Die Umsetzung sah wie folgt aus: sechs bewegungsfreudige Menschen bilden einen Halbkreis mit Blick auf den Fernseher. Ein netter grauhaariger Mann mit Vollbart erscheint auf dem Bildschirm. Er wollte das heute „Training“ leiten. Eine halbe Stunde lang wurden von der Hüfte an aufwärts alle Muskeln durch schwimmen, Arm kreisen, wedeln, pushen aber auch tiefes und ruhiges Atmen beansprucht. Ein Blick nach links und rechts ließ mich in angestrengte aber zufriedene Gesichter schauen. Für einen Moment schien alles entspannt und ausgeglichen zu sein. Im anderen Moment wusste ich, dass die Hälfte der strahlenden Menschen sich schon bald weder an diese Freude noch an Thai Chi erinnern würde. Ich werde eine Weile brauchen, um damit umgehen zu können.
Für starke Nerven und ein gutes Trommelfell
Als der Fahrstuhl die untere Etage erreichte, kam mir ein enormer Geräuschpegel entgegen. Da saß eine Dame völlig entrüstet in ihrem Rollstuhl. Mit hochrotem Kopf schimpfte, plärrte und weinte sie. Sie zu beruhigen machte keinen Sinn. Sie akzeptierte nichts mehr.
Von unserem Chef erhielt ich die Aufgabe, sie gemeinsam mit einem Fahrer zur Bank zu fahren, damit sie dort alle Fragen und Bankgeschäfte, die sie bedrückten, klären konnte. So lernte ich Eddy kennen. Es war eine laute Fahrt. Die dramatisierende alte Dame auf dem Rücksitz sorgte für ordentlich Stimmung in unserem kleinen Van. Jeder Hügel, über den wir fuhren, war zu hoch. Jedes Wort das Falsche und Schweigen interpretierte sie als unhöflich und abstoßend. Dass sie mich die ganze Zeit über beschimpfte, ignorierte ich dezent.
In der Bank angekommen trafen wir auf einen sehr ruhigen gelassenen Mitarbeiter, der unserem kleinen Problemfall alle Zeit der Welt gab, sich zu sortieren und zu orientieren. So wurden Plastiktüten, Gummibänder und stark geknickte Unterlagen quer über den Tisch verteilt. Ich wunderte mich, wie die Seniorin tatsächlich die benötigten Papiere finden konnte.
Dazu ist sie im Diskutieren ein absolutes Ass. Ständig hatte sie neue Einfälle, Ideen und Forderungen. Eine Stunde später und mit beantragtem Scheckbuch und 100 Dollar in ihrer Tasche, verließen wir die Bank.
Mit Eddy und seinem Van verbrachte ich einen angenehmen Arbeitstag. Wir brachten Senioren zum Arzt, wobei ich zum ersten Mal sah, wie medizinische Versorgung in den USA funktioniert. Er lud mich zum Mittag ein, zeigte mir nach der Arbeit, wo ich am Besten einkaufen kann und versuchte, mir möglichst preiswerte Sachen zu zeigen und zu empfehlen. Sich in diesen riesigen Läden zurecht zu finden, ist schwieriger als erwartet.
Über den heutigen Tag kann ich mich nicht beschweren. Ich habe viel erlebt, viel gelacht und wieder ein Stück mehr von San Francisco kennen lernen dürfen. So könnte es doch eigentlich weiter gehen.